…in Argentinien_viele Annäherungen; persönliche Beobachtungen & Gespräche
Anfang März ist Schulanfang; das Schuljahr beginnt. Im Fokus, Uniformen, Taschen, Schulmaterial. Läden mit allem Nötigen (& Unnötigen) schiessen wie Pilze aus dem Boden.
1_Buenos Aires_Eltern kämpfen für die öffentlichen Schulen. Wir führen Gespräche mit zwei Familien (sehr gutes Bildungsniveau), welche ihre Kinder bewusst und ausschliesslich in die öffentliche Schule schicken; private Schulen sollen nicht so viel Platz bekommen; gleiche Chancen in der Bildung entsprechend gewährleistet werden. – Schulanfang heisst auch Tarifverhandlungsperiode eins. Lehrpersonen in Buenos Aires beginnen mit einem Streik (gestützt durch z.B. die von uns fokussierten Eltern).
2_Salta Stadtzentrum_Auch hier ist der Start durchzogen mit Streiks und Manifestationen der Lehrpersonen, auch hier werden Gespräche mit Vertretern der Regierung geführt. Der Staat bestätigt eine Inflation von ca. 25 %; effektiv liegt sie jährlich um 50%. Das Personal fordert einen Teurungsausgleich von 23% und Nachzahlungen. – Die Verhandlungen sind nach Provinzen geregelt; aber alle Welt schaut auf BA - In Salta sind wir mit mehreren streikenden und demonstrierenden Lehrerinnen im Gespräch; bleiben auch auf der weiteren Reise per WA in Kontakt. – Uns fliegen die Herzen entgegen, nicht erst, wenn wir uns als Lehrpersonen aus der Schweiz outen, unsere grosse Solidarität für ihr Anliegen aussprechen.
3_Provinz Jujuy_Das Schulsystem ist sehr engmaschig über das ganze Land ausgelegt. Landschulen (Escuela rural No 4234) alle 15 km. – Primar- und Sekundarschulen gibt es jeweils in den einzelnen Dörfern; gar Weilern. Aus allen Ecken der Täler kommen sie in zwei Schichten (mañana o tarde) in der Schule zusammen. Es sind nicht mehr als 30 – 50 SuS pro Schule. Beispiel Homaditas: Es gibt eine Kirche, ein Gemeindehaus, (selbstverständlich einen Fussballplatz!), eine Primarschule mit 30 SuS: ein Werklehrer, eine Direktorin, vier Lehrerinnen & eine Hausmeisterin. Wenn die Schule um 16.30 aus ist, gibt es eine Versammlung mit Fahnenabzug und Hymne. Anschliessend wird die Schule geschlossen & alle fahren nach Hause. Wichtig: die Ankündigung, die Schule sei am folgenden Tag wegen Streiks geschlossen.
4_Cachi_Provinz Salta_Die Schule wiederum im Zentrum des hübschen Ortes Cachi. Ein Plakat an der Primarschule erregt unsere Aufmerksamkeit:
Escuela primaria para jovenes y adultos, de 1e a 7e grado
En la escuela Dr Victorino de la plaza Cachi, de 14 a 99 anos de edad
Horario de inscripción : de 18.30 a 22.30hs
Maestra Patricia Chaile
Das Angebot würde rege benutzt, so eine anwesende Lehrerin. Die Menschen der Umgebung hätten die Schule (zu) früh verlassen und kämen im Erwachsenenalter zurück, um die Primarschule (oft parallel mit ihren Kindern) abzuschliessen. – Um die Ecke, die Abendschule der Tercera (16 – 21 Jahre). In Cachi können die Jungen drei Disziplinen lernen: Turismo, Officina, Systema analytica. – Und wenn sie fertig sind mit der Ausbildung? Bleiben sie im verträumten, weiss getünchten Ort …oder ziehen sie in die Provinzstadt Salta? – In der Provinz Salta beträgt in diesem Jahr der Anteil Leute, die unter der Armutsgrenze leben erstmals 30%!
PS: Ob KV / Gewerbeschule Luzern oder Tercera Cachi…, die Jungen wälzen sich im gleichen Schlendergang zum Schulhaus; global vernetzt.
5_Salta Stadt_Aussenquartier_Ein Kontakt durch die Streiktage ermöglicht uns, einen Blick in den Unterricht zu werfen. Wenn wir in den Landschulen jeweils höflichst begrüsst und durch die offiziellen Hallen geführt wurden, blieb uns ein Blick in den Unterricht verwehrt. Durch den persönlichen Kontakt werden wir in die Schule Escuela Almirante Cristóbal Colón (No 4691), Barrio Norte Grande eingeladen.
Wir steigen in ein Taxi und melden die Adresse; ca. 7 km vom Stadtzentrum entfernt. Je näher wir dem Quartier kommen, desto unruhiger unser Taxifahrer. Unsicher sei die Gegend, gefährlich gar. Es habe viel Polizeipräsenz. – Erst als wir ihm von unserer Einladung erzählen und wir mit ihm einen Rückfahrttermin ausmachen, ist er beruhigt.
Die Schule liegt tatsächlich in einem speziellen Quartier. Das zeigen die Häuser & Strassen, das zeigen allerdings schliesslich die Geschichten, welche uns die Lehrerinnen über ihre Schülerschaft erzählen.
Vorerst nehmen wir zur Nachmittagsstunde an der Versammlung teil. Schüler hissen die Fahne, singen ein Lied, lesen einen Vers. Alle Klassen sind versammelt, begeben sich anschliessend mit den Lehrpersonen in den Unterricht. Vorher fand das Mittagessen statt; für alle. Für viele Kinder die einzige warme Mahlzeit am Tag. Die Siebenklässler lernen Scones backen. Jede Woche etwas Neues und Frisches zubereiten, damit sie ihre Kenntnisse nach Hause tragen können.
Wir sind in der zweiten Primarklasse. Unsere Kollegin begrüsst – nach argentinischer Manier – jedes Kind mit einem Kuss auf die Wange. Sie beginnt den Unterricht, obwohl noch nicht alle da sind. Einige tröpfeln nach und nach ein. Das Sonnensystem und die Planeten im Fokus. Aufträge werden mit lauter Stimme erteilt; viele verstehen sie kaum. Jeder werkelt, viele schlecken, einige malen oder wühlen in ihren Taschen. Nach einer Lektion sind die wenigsten soweit, wie die Lehrerin das gerne gehabt hätte. Egal, die nächste Stunde folgt mit einer neuen Lehrperson. – Wir ziehen unsere Runden durch die Klassen; ein fröhliches HALLO mit einigen neugierigen Fragen. Auch mit einzelnen Lehrpersonen dürfen wir uns austauschen.
Die Schule ist – nach mehrjährigem Unterbruch – wiedereröffnet worden. Die Kinder kommen meist lückenlos in die Schule. Auch wenn sie daneben Jobs haben, die Schule verpassen sie nicht. Für viele ein Ort des Schutzes, der Gemeinschaft, der Zukunft. Warmes Essen, erwachsene Personen, welche einem nachfragen, ein geschützter Ort. – Das Zuhause sieht für viele ganz anders aus: Kriminalität, Drogen jeglicher Art, Alkohol, zerrüttete Familien, traumatische Erlebnisse. So erfahren wir von einer 16-Jährigen, welche die siebte Klasse besucht, während ihre eigene Tochter im Kindergarten ist. Extrem frühe Schwangerschaften sind in solchen Quartieren keine Seltenheit in Argentinien.
Zurück in der zweiten Primarklasse. – Argentinien garantiert Schulbildung für alle; im kleinsten Weiler des grossen Landes. – Chancengleichheit gibt es nicht, aber bei jedem Kind den grossen Wunsch, dass es den Schritt ins eigene, im Fall vom Barrio Norte Grande, unabhängige und gesunde Leben findet.
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